Schutzengel

[14] Drei Geister nahten diese Nacht,

Die trübe sinnend ich durchwacht.

Mein innres Aug' sah Visionen.

Sie thronen nicht im Sternenzelt:

Sie sind Geschöpfe dieser Welt,

Die als Schutzengel sie bewohnen.


Der erste Geist am Lager stand,

Schwarz war sein Haar und sein Gewand,

Und sprach mit monotonem Laute:

»Ich bin der Trost für jeden Schmerz,

Das Herz ich weise himmelwärts,

Das auf der Falschheit Schwüre baute.
[14]

Bin Vampyr, der aus wunder Brust

Zwar saugt das Blut der Lebenslust,

Doch auch fortfächelt alle Leiden;

Bin Stab, der zur Erkenntniß führt,

Doch welken macht, was er berührt –

Ich bin die Mutter dieser Beiden.«


Sie wies auf jene andern Zwei.

Vortrat die zweite stolz und frei

Mit festem herrschaft-sicherm Tritte.

Sie prahlte nicht mit Prunkgeschmaid,

Nur einen Spiegel hielt die Maid

Und neigte sich in stummer Bitte.


»Erwähle mich!« so rief sie hell.

»Wir kennen uns ja lang, Gesell,

Ich kann dir mehr als jene geben.

Bereitet sie dich vor zum Tod,

So lehre ich trotz aller Noth

Dich tugendhaft und glücklich leben.


Wenn Sinnlichkeit dich unterjocht,

Wenn dir's im Busen kocht und pocht,

Ergreife meine kühle Rechte!

In meinem Spiegel man erkennt,

Mit meinem Messer man zertrennt

Der Leidenschaften Truggeflechte.«


Da schallte es wie Orgelklang,

Wie Aeolsharfen, Sphärensang.

Es schwebte in der Andern Mitte

Mit Engelsflügeln, goldnem Haar,

Mit Sternenaugen süß und klar

Im Regenbogenkleid die Dritte.


Sie säuselte mit Silberton:

»Erriethest du die Andern schon?«

»Die Einsamkeit, so heißt die Eine.

Die Andre heißt Philosophie.

Ich herrsche mit der zweiten nie,

Wohl mit der ersten im Vereine.
[15]

Ich bin der Schönheit bester Theil.

Trifft mich des Grames giftiger Pfeil,

Sing' ich noch süßre Schwanenlieder.

Ich schütte Blumen auf die Gruft,

Ich stürze aus bewölkter Luft

Als Blitzstrahl der Begeistrung nieder.


Ich wetterleuchte rings umher;

Und wie die Perle schläft im Meer,

Birgt mich des Herzens tiefste Kammer.

Bin Taube, die den Oelzweig bringt;

Bin Regenbogen, der sich schlingt

Versöhnend ob der Sündfluth Jammer.


Sieh hier mein Diadem: Zumal

Ein Sonnen- und ein Mondenstrahl

Dafür mir schenkten ihr Gefunkel.

Denn wie die Sonne leite ich

Und sanften Zauber spreite ich

Dem Mond gleich über's Lebensdunkel.


Wir wissen nichts, stets weicht zurück

Die Wahrheit vor des Forschers Blick,

Fata Morgana täuscht so sinnig –

Schau hier in meines Schildes Rund:

Dort spiegeln wieder, reich und bunt,

Sich alle Lebensfarben innig.


Mit dieser Mischung reinstem Strahl

Mal' ich das Luftschloß Ideal.

Ich bin auch deines Lebens Leuchte.

Ich bin die Muse Poesie.«


Die Visionen schwanden, wie

Mein Auge sank, das thränenfeuchte.[16]

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 14-17.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Neukirch, Benjamin

Gedichte und Satiren

Gedichte und Satiren

»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon