Psalm der Leidenschaft

[213] Wie du mich lange, lange verlassen hattest,

Meiner Phantasie und meiner Kraft gewaltige Tochter,

Leidenschaft! –

Die du von mir gewichen warest und von mir geflohen

In Dämmertiefen und Nebelgründe –
[213]

Die du mich hattest verdorren lassen und kläglich verkümmern –

Wiederum nun nach langem Entbehren

Feire ich in stürmisch klopfender Brust

Deine dithyrambische Einkehr!


Leidenschaft! Voll bin ich deiner und deiner trunken –

Alles Verstaubte tief, tief versunken –

Alle Gewöhnlichkeit glitt dahin –

Begeisterung! Ich schlürfe dich liebeglühend, Erlöserin!


Voll bin ich deiner! In starker Erregung –

In glüher Bewegung

Ist all mein Sein!

Leidenschaft, ich bin dein!


Sie – sie ist zu mir niedergestiegen

Und hat mich erwählt –

Und eine Beute von süßen, köstlichen Siegen

Hab' ich ihr wieder und wieder erzählt,

Wie sie all mein Suchen und all mein Sinnen

Einzig begreift –

Ob Tage, ob Wochen, ob Monde verrinnen –

Meine Liebe bleibt und reift ...


Leidenschaft! Du erfüllst mich so ganz!

Mit magischem Schein überströmt mich dein Glanz,

In deinen Wirbeln so ganz verloren

Ward ich wiedergeboren!
[214]

Wie so anders nun leuchtet mir Leben und Welt!

Wie so heimisch nun ward mir mein irdisch Gezelt!

Stunden oft rast' ich und rege mich kaum ...

Und mich erfüllt namenlos glücklicher Traum –

Alles gewährend, Leidenschaft, bist du genaht!

Siehe, ein Trunkener wandelt der Liebe rosentriefenden Sonnenpfad!


Die du mich lange, lange verlassen hattest, Leidenschaft –

Neu haftet's in mir von deinen Geschossen!

Neu dampft meiner Seele gebärende Kraft –

Ich habe genossen!


Und trunken ward ich von all dem heißen Genießen,

Rosen nur seh' ich, nur Rosen sprießen

Je und je –

Berauschende Düfte wehen mir zu die Winde,

Und mir seligem Kinde

Schweigt das Weh ...


Sturm nur erfüllt mich und kühneres Wollen –

Ob Tage, ob Wochen, ob Monde verrollen,

Was kümmert's mich!

Laß sie in blödem Plunder verfliegen –

Die du zu mir herniedergestiegen,

Leidenschaft! Liebe! ich halte dich!


Halte dich – ob auch nur eine Stunde –:

Deine Saat gedeiht![215]

Geheimnisvoll mit dir im Bunde

Ueberwind' ich die zehrende Zeit ...


Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 213-216.
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