Die Nadel im Baume

[155] Vor Zeiten, ich war schon groß genug,

Hatt' die Kinderschuhe vertreten,

Nicht alt war ich, doch eben im Zug'

Zu Sankt Andreas zu beten,

Da bin ich gewandelt, Tag für Tag,

Das Feld entlang mit der Kathi;

Ob etwas Liebes im Wege lag?

Tempi passati – passati!
[155]

Und in dem Heideland stand ein Baum,

Eine schlanke schmächtige Erle,

Da saßen wir oft in wachendem Traum,

Und horchten dem Schlage der Merle;

Die hatte ihr struppiges Nest gebaut,

Grad in der schwankenden Krone,

Und hat so keck herniedergeschaut

Wie ein Gräflein vom winzigen Throne.


Wir kosten so viel und gingen so lang,

Daß drüber der Sommer verflossen;

Dann hieß es: »Scheiden, o weh wie bang!«

Viel Tränen wurden vergossen;

Die Hände hielten wir stumm gepreßt,

Da zog ich aus flatternder Binde

Eine blanke Nadel, und drückte fest

Sie, fest in die saftige Rinde;


Und drunter merkte ich Tag und Stund',

Dann sind wir fürder gezogen,

So kläglich schluchzend aus Herzensgrund,

Daß schreiend die Merle entflogen;

O junge Seelen sind Königen gleich,

Sie können ein Peru vergeuden,

Im braunen Heid, unterm grünen Zweig,

Ein Peru an Lieben und Leiden.


Die Jahre verglitten mit schleichendem Gang,

Verrannen gleich duftiger Wolke,

Und wieder zog ich das Feld entlang

Mit jungem lustigen Volke;

Die schleuderten Stäbe, und schrien »Hallo!«

Die sprudelten Witze wie Schlossen,

Mir ward's im Herzen gar keck und froh,

Mutwillig wie unter Genossen.
[156]

Da plötzlich rauscht' es im dichten Gezweig,

»Eine Merle«, rief's, »eine Merle!«

Ich fuhr empor – ward ich etwa bleich?

Ich stand an der alternden Erle;

Und rückwärts zog mir's den Schleier vom Haar,

Ach Gott, ich erglühte wie Flamme,

Als ich sah, daß die alte Nadel es war,

Meine rostige Nadel im Stamme!


Drauf hab' ich genommen ganz still in Schau

Die Inschrift, zu eigenem Frommen,

Und fühlte dann plötzlich, es steige der Tau,

Und werde mir schwerlich bekommen.

Ich will nicht klagen, mir blieb ein Hort,

Den rosten nicht Wetter und Wogen,

Allein für immer, für immer ist fort

Der Schleier vom Auge gezogen!


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 155-157.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Die Ausgabe von 1844)
Gedichte
Sämtliche Gedichte (insel taschenbuch)
Geistliches Jahr: Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Gedichte (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon