Wirbal (mit dem Blutspeer)

[70] Von Bläue und Wolkenschatten durchdunkelt,

Von flirrenden Sternen durchfunkelt,

Schwelt sausend und sacht

Die Weltraum-Nacht –


Da kommt über Wolkenwogen

Ein flimmerndes Singen geflogen,

Tropft und tropft Klang um Klang

Ein Sphärengesang

In die Nacht –


»O' du und wir – du und wir –

Du bist in der Nacht und bist doch nicht hier –

O' Wirbal, du Gottheld der Liebe,

Du Allüberrager,

Wo glänzt dein Auge, wo ist dein Lager?

Wir dürsten nach dir,

Kämpfer und Wager,

Und nach Liebe – «


Da schweben wie mit nächtlichen Schwingen,

Die suchenden Frauen aus düsterer Ferne

In den Sprühlichtregen der Sterne –

Da gleitet im Leuchten der leuchtende Chor – –

Nun wieder ein Singen,

Einer Stimme Singen:
[71]

»O' Wirbal, du, den ich erkor,

Den ich am Anfang besaß –

Und wieder verlor, wie müd ist mein Tanz,

Wie leer meine Nacht,

Kein Glutblick, der mir lacht,

Kein Arm, der mein Blühen entfacht,

Nicht du, allgroßer Glanz –

O' sternlichtbetauter,

Nachtlockenumblauter

Glanzgott

Komm!«


Die Klage verirrt – – –

Ein Sprühkomet schwirrt

Hochoben – – –


Sieh! da kommt ein Feuer!

Hör, da kommt ein Fauchen!

Da kommt ein Neuer!

Seinem Reitroß rauchen

Die Nüstern –

Wirbal!

Wirbal!


Die Jungfrauen flüstern –

Da beginnt in glutschwerem Baß

Der riesige Reiter zu singen:
[72]

»Du Eine, die du riefst,

Die du sangst und nicht schliefst,

Ich bin der übernächtige

Liebesmächtige,

Den du suchst.

Komm du Tanzschmächtige,

Von Sehnsucht verstört,

Dein Lied ist erhört,

Erlösung wird dein.«


Singt wieder die Eine allein:

»O' Wirbal, Wirbal ich kann nicht mehr singen,

Mein Herz will springen, –

Mein Herz will ich dir bringen – –

Dein Speer glüht so rot – «


»Du bist liebesstark, sei bereit,

Daß ich dich löse aus Sphärenzeit

In Aeonenseligkeit!

Ich bin der Liebestod!«


Da wankt die Eine und hauchte: »ich will« –

Dann lachte sie selig und war ganz still – –


Da stieß er ihr den Stahl ins Herz,

Sie hat nicht geschrieen vor Schmerz –

Erlöst war ihr Herz – –

Der Speer tropfte blutrot – –[73]

Der Blutspeer hat das Herz durchschnitten –

In der Nacht –

Der Chor ist tot tiefab geglitten

In die Nacht –

Der Riese ist finster zurückgeritten

In die Nacht – in die Nacht.


Quelle:
Gerrit Engelke: Rhythmus des neuen Europa, Jena 1921, S. 70-74.
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