Unter der Rose

[136] Ein Symposion.


Der König des Festes.


Unter der Rose sprechen wir aus der Rose Geheimniß;

Sagt, Ihr Freunde, warum Freunde die Rose vereint?


Erster.


Ist sie die Blume nicht der tausendblättrigen Eintracht?

Wie ein Kelch sie umfaßt, wie sie die Knospe verbirgt,

Gold in ihrer Mitte. Sie kränzt die Tafel der Freundschaft,

Ihren geselligen Scherz, ihren belehrenden Rath.


Zweiter.


Ist sie die Blume nicht der früh-aufwachenden Anmuth?

Aus der Aurora Kranz sank sie vom Himmel herab.

Und noch freut sich in ihr die leuchtende Göttin; sie schenkt ihr

Perlen zu ihrem Schmuck, hellen ambrosischen Thau.


Dritter.


Ist sie die Blume nicht der holderröthenden Unschuld?

Lilie war sie einst, Liebe verwandelte sie.

Noch blüht auf der Wange das süße Wunder, in dem sich

Zweifel und Zuversicht, Weigern und Sehnen vereint.


Vierter.


Ist sie die Blume nicht – verbirg Dich, stilles Geheimniß!

Paphia gab sie dem Sohn, Dieser dem schweigenden Gott;

Und Harpokrates drückt' an die rosige Lippe der Jungfrau

Ihre Knospe, da schwebt', siehe! der heilige Kuß.


Fünfter.


Dornen umwachen sie; wo blüht die schüchterne Liebe

Ohne Dornen? und bald welket die zarte dahin.

Doch sie begleitet uns auch gen Elysium. Hänget nicht dort auch

Ueber der Freunde Fest ein amaranthener Kranz?


Sechster.


Und sie bleibet nach uns. Im Gemüth der freundlichen Nachwelt

Sproßt die Rose des Danks ohne zerreißenden Dorn.[137]

Gutthat bleibet. Wolan! es umkränze den Becher des Lebens

Milde Gefälligkeit, Grazie weihe den Kranz!


Der König des Festes.


Stimmet den Hymnus an! Seht, es beweget der Kranz sich:

Gastlich steigen zu uns freundliche Götter herab.


Chor.


Rose, Königin der Blumen,

Du, der Götter und der Menschen

Liebling, Kunstbild alles Schönen

Und der Weisheit und der Anmuth

Und der Unschuld, Lieb' und Eintracht

Holde Blume, sei gegrüßt!


Und bewillkommt und gepriesen

Seid Ihr Alle, die sie liebten,

Paphia, Du Vielbenannte,

Hygiea und Aurora,

Tellus und die Charitinnen

Sammt dem Chor der Aoniden,

Zephyretten und Ihr Nymphen,

Die der Blätter Teppich weben,

Die den Kelch der Blumen füllen

Mit ätherisch süßem Thau.


Und der Rose Gott, die Biene,

Bacchus auch und alle Götter,

Die Symposien und Tänze,

Kurzweil lieben und Gesänge,

Wahret Eure Freudenfeste,

Eurer Blume Heiligthum!


Und wenn hie und da der Unmuth,

Wenn die fehlgeschlagne Hoffnung

Wölkend eine Stirn umhüllet,

Reicht dem Blöden, dem Verzagten,

Reicht dem Zweifelnden die Rose!


Oder will die wilde Zwietracht,

Groll und Neid und alte Feindschaft,

Will der lauschende Verräther[138]

Sich in unsre Kränze mischen,

Scheucht die Widrigen, die Feinde,

Mit der Rose Duft hinweg!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 136-139.
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