Marie und Wilhelm

[153] Im Abendschein am Fenster saß

Allein mit ihrem Harme

Marie, das Antlitz welk und blaß

Gesenkt auf ihre Arme.


So saß das Mädchen still und sann,

Sann nach den alten Zeiten,

Und manche heiße Träne rann

Den schönen alten Zeiten:[153]


Als sie im trauten Hüttlein noch

Bei lieben Eltern wohnte

Und süßer Gottesfriede noch

Der reinen Seele lohnte;


Als sie so fromm zur Kirche ging

Und ihre Wange glühte,

Wenn jedes Äug im Dorfe hing

An ihrer Jugendblüte;


Als sie am lauten Erlenbach

Dem Wilhelm, freudetrunken,

Das erste Wort der Liebe sprach

Und ihm ans Herz gesunken;


Und er sie nannte »süße Braut!« –

›Das alles ist vorüber!‹

So dachte sie und schluchzte laut,

Ihr Herz ward immer trüber:


»Es kam der Feind in Sturmeslauf

Mit grimmen Todesstreichen;

Das Hüttlein sank, ein Aschenhauf,

Die Eltern, wunde Leichen.


Die Eltern tot! Er in die Welt!

Die Träne rann vergebens,

Ich in die Nacht hinausgestellt

Des unbekannten Lebens! –


Da glänzt' ein milder Strahl daher

Im hoffnungslosen Dunkel,

Ein böses Irrlicht, lockend sehr

Mit lieblichem Gefunkel:


›Laß ab zu klagen, Kind, laß ab!

Komm, folge deinem Sterne!

Die Eltern kühlt und heilt das Grab,

Den Bräutigam die Ferne![154]


Bald sollst du als beglückte Frau

Genesen aller Leiden;

Komm, folge mir zur Liebesau

Voll ewig grüner Freuden!‹


Ich wischte mit treuloser Hand

Die Tränen von der Wange

Und ging – und ging – das Irrlicht schwand

Am furchtbar steilen Hange!


Nun ist mein Herz so grabesdumpf,

Verlassen wie die Wüste,

Seit in den bodenlosen Sumpf

Gesunken ich der Lüste!«


Marie blickt in die Nacht hinein

Aus ihrem stillen Zimmer;

Schon ist am Himmel Sternenschein

Und sanfter Mondenschimmer.


Im Garten ruft die Nachtigall,

Sie scheint in bangen Weisen

Zu klagen um des Mädchens Fall,

Die Unschuld süß zu preisen.


Und leise kommt der Abendwind,

Der ihren Locken schmeichelt,

Als wollt er trösten, ihr gelind

Die bleiche Wange streichelt.


Geh fort, o West, vom Mädchen, geh!

Laß ruhn den welken Flieder!

Du tust ihr mit den Blüten weh,

Die du auf sie streust nieder! – –


Da öffnet sich das Kämmerlein:

Es ruft ein Mann: »Maria!«

Die Freude stoßt ihn wild herein:

»O meine Braut Maria![155]


Ich habe nun mein Glück erjagt,

Mich durch die Welt getrieben;

Hab viel gelitten, viel gewagt

Und bin dir treu geblieben!


Wenn schier mein Herz vor Leide brach

An lieblos fremdem Orte,

So dacht ich an den Erlenbach,

Ich dacht an deine Worte!«


Er preßt sie selig an das Herz;

Sie aber muß sich wenden,

Sie hüllt, zerknickt von ihrem Schmerz,

Das Antlitz mit den Händen.


Und leichenblaß und zitternd bricht

Sie hin zu seinen Füßen;

Er weint, er deckt ihr Angesicht

Mit feurig bangen Küssen.


»Mir nicht den Kuß! bin sein nicht wert;

Tief sank ich ins Verderben!

Bin treulos, Wilhelm, und entehrt!

Zieh fort und laß mich sterben!« –


Wie also sie zu Wilhelm sprach,

Da schied er, schwer beklommen,

Ging still hinaus zum Erlenbach,

Der ihn mit fortgenommen.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 153-156.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Faust: Ein Gedicht
Gedichte
Die schönsten Gedichte
Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Bjørnson, Bjørnstjerne

Synnöve Solbakken. (Synnøve Solbakken)

Synnöve Solbakken. (Synnøve Solbakken)

Vor dem Hintergrund einer romantisch idyllischen Fabel zeichnet der Autor individuell realistische Figuren, die einerseits Bestandteil jahrhundertealter Tradition und andererseits feinfühlige Persönlichkeiten sind. Die 1857 erschienene Bauernerzählung um die schöne Synnöve und den hitzköpfigen Thorbjörn machte Bjørnson praktisch mit Erscheinen weltberühmt.

70 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon