Die Siebende und Letste Andacht

[217] An das heilige Antlitz seines Allerliebsten Herren Jesu.


1.

Bleiches Antlitz, sei gegrüsset.

Ach es fliesset

Heisses Bluht die wangen ab,

Welche Schmertzen Gottes Sohne

Seine krohne

Gantz vol scharffer Dörner gab!


2.

Ach! wie ist sein Haubt zuschlagen!

Es muß tragen

Der verfluchten Speichelkoht:

Der ein König ist gebohren,

Hat verlohren

Allen Pracht in dieser Noht.


3.

Der so lieblich pflag zu blüen,

Den bemühen

Schläge, peitschen, schmach und pein:

Hier ist nichts als Haut und Knochen

Unzerbrochen,

Welch' ein Bild deß Todes sein.


4.

Jesu, der du so geschlachtet

Und verachtet

Wegen Meiner Sünde bist,

Du kanst durch ein freündlichs blikken

Mich erquikken,

Wen Mich Sorg' und kummer frist.


5.

HERR, du wollest durch dein Leiden

Stets Mich weiden

Als ein Schäfflein Deiner Heerd';

Hast du doch aus deinem Munde

Manche Stunde

Milch und Honig Mir beschert.


6.

Ach du wollest nicht verschmähen

Diß mein flehen,

Weil die Stunde komt heran,

Da du wilt die welt verlassen;

Ich muß fassen

Dich, so lang' Ich seüftzen kan.


7.

Laß dein Haubt zu Mir sich neigen,

Anzuzeigen

Deiner Liebe treffligkeit;

Laß Mich unterm kreütze sterben,

Lass Mich Erben

Gottes Reich nach dieser Zeit.


8.

Ewigs loben müss' erklingen

Durch mein Singen

Dir, O Jesu, Gottes Sohn.

Günne Mir, was Ich gebehten,

Laß Mich treten

Unverzagt vor deinen Trohn.
[217]

9.

Laß mich auß der Welt doch scheiden,

Herr, mit freüden,

Laß Mich ia den Tod nicht sehn:

Laß mich seine Macht nicht schmekken

Noch erschrekken,

Wen Ich sol von hinnen gehn.


10.

Jesu, du stehst Mir zuer Seiten,

Zu begleiten

Meine Seel' in Gottes Hand.

O wie werd' Ich vor dir Singen,

Klingen, Springen

Dort im rechten Vaterland'.


Quelle:
A. Fischer / W. Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts, Band 2, Hildesheim 1964, S. 217-218.
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