Mendelssohn

[381] Als Mendelssohn, der Weise, starb;

Da strahlt' ein Geist des Himmels zu der Seele

Des Weisen. »Komm, und folge mir!«

Wie Silberglockennachhall sprach's der Geist.

Er führte dann die Seele durch des Todes

Grauenvolles Nachtthal, wies der staunenden

Bei seines Krystallstabes Schimmer die Zerstörung[381]

Der Sünde in den Klüften des Scheols,

Wo die Verwesung nagt, Verzweiflung brüllt,

Wo gelbe Bäche aus den Ritzen schwarzer

Mit Moos bewachsner Felsen schäumend stürzen;

Wo aus der Menschenschädel hohlem Auge

Die Otter züngelt, wo gefleckte Kröten

Sich gurgelnd blähn bei Menschenäsern.


»Wer wird einmal zerstören das Geklüft

Voll Jammer?« athmet Mendels Seele.


»Der Einzige, der hat die Schlüssel

Der Hölle und des Todes,« sprach der Engel;

Führte dann des Weisen Seele durch die Räume

Des Himmels.


Staunend sah der Denker

In der Schöpfung Weite Raums genug

Für alle Wesen, Welten, Geister,

Sich drinn zu wälzen. Gottes Nähe

Durchschauert' ihn. »Du bist Jehovah!«

Sprach die Seele, küßt' der Rechten

Aufgehobne, lichtbeströmte Finger.

»Du bist Jehovah! Hab' so oft gefühlt

Im niedern Erdenthale diese große Ahnung.«

So lispelt Mendels Seele und verstummt.

Sie kamen vor des Himmels Sonnenpforte,

Eloa öffnet sie. Der Führende

Und der Geführte traten schauernd hinein.

Ein Menschensohn, der Schönheit und der Größe,

Der reinsten Güte Urbild stand vor Mendelssohn.

»Aus meinem Stamme bist du nach dem Fleische,«

Sprach eine Stimm', der Liebe Wiederhall.

»Ich kenne dich, bist aus dem Volke, dessen

Haß ans Kreuz mich schlug. Du hast auf Erden

Mich nie gekannt, doch nie gelästert.

Drum wählt' ich dich aus Tausenden,

Um früher dir zu sagen: Ich bin dein Bruder!

Bin Jesus Christus! Bin dein Bruder!

Nach Wahrheit lechztest du, komm, fall an meine Brust.[382]

Hier findst du sie! Nach Schönheit strebtest du;

Sieh hier der Schönheit höchstes Ideal.

Nach ew'gem Heil und Leben rangest du;

Komm! ew'ges Heil und Leben geb' ich dir!

Als du des Abfalls Greuelfolgen sahst

Dort im Scheol, im Todtenbeingeklüft,

Da weinte deine Seel'; o weine nimmer,

Bald führ' ich sie, als Todesüberwinder

In ihrer Ordnung die Gestorbnen alle

Herauf zu mir. Mir ist gegeben

Im Himmel und auf Erden alle Macht.


Geh nun, ich weihe dich zum Lehrer

Der Todten deines Volkes, die mich einst

Im Erdenthal verkannten, mich verspotteten,

Der für sie blutete.«


Und Jesus schwieg.

Ihr Erdendichter mit der Harfe, drinn

Der Holzwurm nistet, o das singt ihr nicht!

Ihr Engel all', mit goldbespannten Harfen,

Mit lichtbeströmten Lippen, o das singt ihr nicht,

Was Mendels große Seele da empfand,

Als sie zu Jesus Christus Füßen lag,

Und seine tiefe Scham, sein Thränenstrom

Die ganze Strafe der Verläugnung war.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 381-383.
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