Traum

[160] Noch trag' ich's ja ...


Doch einmal – weiß ich – reißt's mich fort,

Eh' meiner Jugend letzte Blüte fiel,

Aus dumpfer Städte eklem Hüttenqualm

Hinauf zu jenem lichten Zauberland,

Das früh der Sehnsucht Finger mir gewiesen.


Ein plumper Nachen schwimmt auf schwarzer Flut,

Gleichförmig klatscht der Ruder schwerer Takt.

Jetzt schürft der Sand, hart fliegt der Kahn an's Ufer,

Die Kette knarrt, schon faßt mein Fuß den Boden,

Ein Händedruck,

Der Alte stößt sich ab,

Im Meergesang verplätschert fern der Kahn

Ich bin allein –

Allein.


Und vor mir ragt es auf:

Wilde Titanen voller Nordlandsmark,

So trotzig-schroff,

Als hätte nicht des Alters Schneegeschmeid'

Auf ihre Stirnen glitzernd sich gelegt.

Noch gluten ihre Augen.

Und ihre Arme recken sich empor,

Als schrieen sie nach Rache, Rache –

Jetzt noch, nach so viel tausend Jahren,

Rache

Für unerhörten Frevel.

Doch ihre Muskelkraft ward starrer Stein.

Stahlhart strafft sich die Flut um ihren Leib,[161]

Schweigend und grau.

Kein leiser Windhauch wellt sie auf

Zu kosendem Gebuhl

Wie an des Südens schmeichelnden Gestaden

Kein Vogel flattert singend drüber hin:

Ruhe ist alles – Einsamkeit und – Tod.


Und langsam schreit' ich so bergan.

Und immer höher,

Bis zur höchsten Kuppe:

Da halt' ich Rast.


Fels und Geröll ringsher

Und weite, weite Felder,

Drauf ew'ger Winter weiße Aussaat hält. Unten tief

Das Meer,

In das die Sonne

Purpurnes Blut aus glühenden Wunden tropft ...


Und schweigend seh' ich in der Nordlandsnacht

Leuchtendes Wachen,

Und meines Lebens ferne Sage

Klingt mir wie süßer Glockenklang herauf

Ganz leise, leise,

Vom Golde der Vergangenheit durchquollen.


Ewigkeitsschauern schwebt herab,

Brennende Wunden schließen sich, es ebbt

Der Strom der Leidenschaft,

Und meines Herzens Bitternis

Verklärt sich still zu reifem Manneslächeln

Vor dieser Sonne mit dem Feuerblick.
[162]

Und so, mein Aug' in ihren Glanz getaucht,

Zu stummer, brünstig-heißer Andacht

Gleit' ich hinab

In sonnenblutdurchströmte Nordlandsfluten,

Die flüsternd leis, gleich einem kranken Kind,

Zu ew'gem Schlummer mich hinüber träumen ...

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 2, Hamburg o.J. [1954], S. 160-163.
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