Der Secundus

[85] In der gesangweis des Römers.


2. april 1535.


1.

Als Secundus philosophus, der meister hoch

von Athen, viler meister hohe schul durchzoch,

das er alle freie künste möcht leren;

Eins mals hort er zu schul, wie von natur die weib

weren geiler, fürwitziger, unkeusch von leib

weder die man, verwegen irer eren.

Als er nun in sein vatterlant

kam, der freuntschaft entwachsen, nach vil jaren,

auch seiner muter unbekant,

an der meint er die warheit zu erfahren.

heimlich er um sie bulen wart;

durch hohe bit sein muter wurt beweget

und in gewert nach weibes art.

als er sich beizuschlafen zu ir leget

lag er, als einem sun gebürt,

züchtig bis es wart tagen,

das er sein muter nit berürt;

als sie das spürt,

wurt in verwundrung sie gefürt,

tet trutzig zu im sagen:
[85]

2.

»Was bistu zu mir kumen zu versuchen mich?«

Secundus sprach: »es zimet mir mit nicht, das ich

einge, da ich bin vormals ausgegangen.«

Die frau sprach: »wer bistu, der dises hat geton?«

do antwort er: »wiß, ich bin Secundus, dein son.«

do wart das weib mit solcher scham umfangen,

Das sie vor seinen augen starb.

als Secundus sah, das durch sein anzeigen

sein muter so gehling verdarb,

da setzet er im für ein ewig schweigen,

seiner zungen zu straf und buß.

als keiser Adrianus das vernume,

sant nach im, da stunt Secundus

stilschweigent vor dem keiser wie ein stume;

zu reden im der keiser bot,

doch schwieg er auf sein fragen.

der keiser meint, er trieb den spot;

in zoren rot

verurteilt er in zu dem tot,

sein haubt im abzuschlagen.


3.

Der keiser den henker doch unterricht vorhin,

wan er niderkniet, so solt er vermanen in,

zu reden, darmit zu fristen sein leben

Und wen er redt, solt er den kopf im hauen rab;

schwieg aber er, solt er den strick im schneiden ab

und in frei quit ledig los wider geben.

Als er nun niderkniet nachmals,

sprach der henker: »red, so mag dir gelingen.«

schweigent aufrecket er sein hals,

der henker stecket ein des schwertes klingen,

fürt in wider zum keiser, der

bot, wolt er nit reden, das er doch schriebe.

man bracht papier und dinten her,

der keiser in mit hoher frag umtriebe[86]

von got, himel und element,

die er schriftlich erkleret

und blieb forthin alzeit schweigent

bis an sein ent,

leret allein mit seiner hent

vil hoher kunst beweret.

Quelle:
Hans Sachs: Dichtungen. Erster Theil: Geistliche und weltliche Lieder, Leipzig 1870, S. 85-87.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Spitteler, Carl

Conrad der Leutnant

Conrad der Leutnant

Seine naturalistische Darstellung eines Vater-Sohn Konfliktes leitet Spitteler 1898 mit einem Programm zum »Inneren Monolog« ein. Zwei Jahre später erscheint Schnitzlers »Leutnant Gustl" der als Schlüsseltext und Einführung des inneren Monologes in die deutsche Literatur gilt.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon