Der eiszapf

[87] In dem lieben ton Caspar Singer.


20. febr. 1536.


1.

Zu Venedig ein kaufman saß,

der über mer gefaren was

nach kaufmanschaft, als ich es las;

im vierten jar

kam er mit reicher habe;

Als er kam in das hause sein,

sach er laufen im sal allein

ein zwijeriges kneble klein

in weißem har;

er sprach: »wes ist der knabe?«

Die frau sprach: »hör! in einer nacht

lag ich und war ganz munder,

und so herzlich an dich gedacht,

ein eiszapfen herunder

aß ich vom dach; von des natur

ich schwanger wur.

ist das nit ein groß wunder?


2.

Schau an, mein man, von disem eis

gebar ich dises kneblein weiß.«[87]

der man vermerkt den list mit fleiß

und wol verstant,

das sie ir e het brochen;

Tet doch als nem er sein nicht war.

als der knab alt wurt vierze jar

sprach er: »mein weib, nim war, ich far

in fremde lant

drei jar und etlich wochen.

Den knaben wil ich nemen mit,

das er mein handel lere.«

dem weib gefiel der anschlag nit,

und weret dem man sere.

zu widerbringen er verhieß;

erst sie in ließ

hin füren über mere.


3.

Da verkauft er den knaben frei

einem kaufman in die Türkei,

fur wider heim; die frau die schrei:

»wo hast mein kint

gelaßen auf der reise?«

Er antwort: »da wir furen hin,

die sunn so überhitzig schien

auf deinen sun, und hat auch in

zerschmolzen schwint

zu wasser wie ein eise.«

Die frau den list gar wol verstunt,

dacht an ir falsch fußtapfen;

stilschweigent sie die wort verschlunt,

recht wie ein hunt ein krapfen.

darum wer weit ausreis, der schau,

das im sein frau

die weil eß kein eiszapfen.

Quelle:
Hans Sachs: Dichtungen. Erster Theil: Geistliche und weltliche Lieder, Leipzig 1870, S. 87-88.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Fräulein Else

Fräulein Else

Die neunzehnjährige Else erfährt in den Ferien auf dem Rückweg vom Tennisplatz vom Konkurs ihres Vaters und wird von ihrer Mutter gebeten, eine große Summe Geld von einem Geschäftsfreund des Vaters zu leihen. Dieser verlangt als Gegenleistung Ungeheuerliches. Else treibt in einem inneren Monolog einer Verzweiflungstat entgegen.

54 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon